Ein seltener Vogel

Hallo Freunde,

es gibt viele seltene Vögel hier in Russell, die um die Welt gesegelt sind, um hier ihr Nest zu bauen, ein Ei zu legen, auszubrüten und die Angelrute auszuwerfen, um ihren Nachwuchs groß zu bekommen. Aber mein heutiger Besucher war vormals noch nie zu Besuch. Seit einer halben Stunde hält mich ein Graureiher vom Arbeiten, vom schöpferischen Geldverdienen ab. Durch seine Anwesenheit stört er meinen Gedankenfluss, nicht weil er gegen eine meiner großen Glasfenster flog und jetzt benommen davor liegt und Zeit braucht, um wieder zu Sinnen und Kräften zu kommen. Nein, er steht vor meinem Studio, mitten auf dem gemähten englischen Rasen, auf einem Bein. Seit 30 Minuten steht er nun schon da, ohne sich zu rühren, mit geschlossenen Augen.

Schläft er? Mitten am Tag? Vielleicht hat er vergangene Nacht keine Ruhe gefunden und hält jetzt ein Mittagsschläfchen? Ein Ornithologe wüsste darauf eine Antwort. Doch ich kenne keinen und werde später auf Kikis Computer versuchen, eine Antwort auf meine Frage zu finden. Es sei denn, die Graureiher sind auch bei Facebook und verbreiten Fake News.

Seine Anwesenheit, die Ruhe, die er ausstrahlt, besonders in diesen unruhigen Zeiten, raubt mir die Ruhe. Ich könnte hinausgehen und überprüfen, ob meine Theorie stimmt, dass Graureiher mittags schlafen, aber dafür müsste ich ihn wecken. Wenn er fortfliegt, hätte ich recht, aber dann käme er wahrscheinlich nie mehr zurück. Deshalb bleibe ich sitzen, spitze meine Stifte, zeichne ihn und halte diesen Schönling weiter im Auge.

Vielleicht ist er aus der Ukraine geflüchtet…vor Putins Drohnen und sucht jetzt Asyl in unserem Gartenparadies? Oder ist er krank? Hat er Corona? Ich glaube, nur Fledermäuse haben dieses Virus. Oder hat er einen Fisch verschlungen, der Plastikmüll im Magen hatte und der ihm jetzt Verdauungsprobleme bereitet? Ich verdränge diesen Gedanken, denn wenn ich krank bin, liege ich flach auf dem Bauch oder laufe mit hängendem Kopf herum auf zwei Beinen. Vielleicht hat er aber nur ein Bein? Das andere hat er verloren in einer Schiffsschraube? Der Arme! Hoffentlich wurde bei diesem Unglück kein Flügel verletzt. Quatsch! Dann hätte er ja nicht hierher fliegen können, denn vor einer Stunde, als ich mein Studio aufschloss, stand er noch nicht da.

Mir fällt ein, dass meine Schlaftheorie auf schwachen Beinen steht, denn geschlossene Augenlider sind kein Beweis dafür, dass man schläft. Auf den meisten unserer Fotos haben wir die Augen geschlossen, obwohl wir nicht schlafen. Jedenfalls nicht 30 Minuten lang. Deshalb kommt mir der Gedanke, dass dieser seltene Vogel vielleicht meditiert. Allerdings müsste er dann im Schneidersitz hocken und das geht mit einem Bein schlecht. Deshalb komme ich zu dem Ergebnis, dass dieser ergraute Reiher ein Philosoph ist, ja sein muss. Einbeinig und stolz steht er da, mit geschlossenen Augenlidern und denkt, denkt nach über unsere Welt, in die er geboren wurde. In der die Probleme, die Bedrohungen täglich wachsen und das nie Gedachte gedacht wird.

Plötzlich bekommt mein logisches Gedankengebäude Risse, stürzt ein, weil der Reiher die Augen öffnet, sein zweites Bein hervorholt, das nach 30 Minuten längst eingeschlafen war und davonstakst. Wahrlich ein philosophischer Vogel. 30 Minuten hat er nachgedacht über seinen nächsten, seinen zweiten Schritt, den er zu tun gedenkt. So etwas ist sehr selten heutzutage und verdient in diesem Sonntagsbrief erwähnt zu werden. Außerdem bin ich ihm dankbar, denn ohne seinen Besuch hätte ich nicht gewusst, was ich Euch diese Woche aus der Metropole Russell hätte berichten können.

Seid herzlich gegrüßt von
Euerm Helme

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