Kinder unserer Welt

Wer kennt sie nicht, die herzigen Schnappschüsse, auf denen der Nachwuchs in der Badewanne, im Sandkasten, im Kinderwagen sitzt oder mit der Schultüte stramm steht, um abgelichtet zu werden und dann irgendwann in einem Familien-Fotoalbum zu landen. Dort kleben und vergilben die Akteure, um eines Tages entsorgt zu werden, weil sich niemand mehr an sie erinnert.

Mario Marino weiß um die Vergänglichkeit und die Sintflut der Fotos in unserer Zeit, trotzdem gelingt es dem Künstler, uns mit sehr zeitlosen schwarz-weiß Porträts von Kindern dieser Welt zu beschenken.
Je öfter man seine Bilder betrachtet, um so nebensächlicher wird die Herkunft der Protagonisten. Alle weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf, egal, ob sie in Lumpen gehüllt sind, festliche Kleidung tragen oder Uniformen. Das Geschlecht, die Rasse, die Hautfarbe, die Herkunft, die Religion, die Sprache - alle Begriffe sind in diesem Lebensalter irrelevant. Es ist völlig nebensächlich, ob sie in Indien, Afrika, Amerika oder Europa leben. Das einzig verbindende Momentum ist ihr Lebensalter, ihre Kindheit.

Wir alle haben diese wundersamen Jahre durchlebt, glauben uns beim Betrachten der Mario Marino-Bilder an diese Zeit zu erinnern. Doch das ist ein Trugschluss. Das Erlebte, der Zauber, die Ängste, die Freuden liegen wie hinter einer Milchglasscheibe verborgen, sind vom Intellekt verbogen oder ergänzt worden.

Die ersten sechs Lebensjahre sind so real, so flüchtig wie ein Traum, den man nach dem Erwachen erzählen möchte und nach Worten sucht. Ich nenne sie die Raupenzeit des Menschen.

Diese Lebensspanne ist ein märchenhafter Zeitraum, in dem man sich noch mit dem Teddybären, der Puppe, den Tieren und den Blumen unterhalten kann, wo alles möglich erscheint, das Märchen Realität ist und das Reale sich anfühlt wie ein Märchen. Staunend und mit großen, neugierigen Augen betrachten die Kinder die Welt und ihre Bewohner. Sie scheuen sich nicht, Erwachsenen minutenlang in die Augen zu schauen, was denen schnell unangenehm wird.

Liegt es an den großen Augen der Kinder? Das wäre ein Irrglaube, denn die Augäpfel von Kindern und Erwachsenen haben die gleiche Größe. Sie wachsen nicht im Laufe des Lebens wie der Körper. Erst wenn die Milchzähne ausfallen, endet diese frühe kostbare Phase der Kindheit. 6 Jahre lang dürfen alle Kinder dieser Erde in ihrer eigenen geschützten, magischen Welt leben, bevor die Natur die Tür öffnet, um der Raupe Raum und Zeit zu geben für die Metamorphose zum Schmetterling.

Neue Zähne wachsen. Der Blick auf die Welt, das Sehen verändert sich. Plötzlich genügt es den Kindern nicht mehr, nur zu schauen, sie wollen erkennen, spähen, sichten, das Gesehene durchschauen. Aus diesem Grund zum Beispiel bekommen die Kinder in manchen afrikanischen Gemeinschaften erst zu diesem Zeitpunkt ihren richtigen Namen. Im Mittelalter endete die Kindheit bereits mit 7 Jahren, weil Staat und Kirche glaubten, dass das Kind ab diesem Zeitpunkt vernünftig sei, die Sprache beherrsche, eine billige Arbeitskraft sei und sich mit den neuen Zähnen besser durchs Leben beißen könne.

Heute dürfen die Kinder zum Glück bis zur Pubertät Kind bleiben. Danach verändert sich ihr Blick erneut. Mit der Sexualität erfahren sie die eigene Körperlichkeit, die Dreidimensionalität, entdecken die Landschaft, in der sie leben, begreifen in der Schule die Geometrie. Danach verlassen sie das Paradies.

Derzeit befürchten viele Erdenbürger das Verschwinden der Kindheit. Nie zuvor sind so viele Bücher wie jetzt erschienen, die sich mit der Geschichte des Kindes befassen, weil wir einen Paradigmenwechsel durchleben. Alles ändert sich, die Gewissheiten, die Erfahrungen, das Leben.

Vormals in der Antike zu Zeiten des Aristoteles gab es nicht einmal gesetzliche oder moralische Bedenken und Einschränkungen, ein Kind zu töten, weil Kinder geschlechtslose Wesen waren, keine vollwertigen Menschen. Heute kümmern sich Juristen um die Menschenrechte der Kinder. Erzieher beklagen das Unwissen der Kleinen. Manche bedauern die Uniformierung der Gesellschaft. Früher trugen die Kleinen Matrosenanzug und Rüschenkleid, heute laufen Junge wie Alte, Mädchen wie Jungen mit Jeans und T-Shirt herum.

Die Wertschätzung der Kinder hat sich geändert, das heißt, wir Erwachsenen haben unser Verhalten zu ihnen verändert. Oder haben die Kinder uns verändert? Wir sollten uns um sie keine Sorgen machen, solange wir ihnen eine 12jährige Inkubationszeit schenken. Nie ist der Mensch kraftvoller, näher in und mit der Natur verwurzelt als in diesen ersten Lebensjahren. Darin gleichen sich alle Kinder aller Kulturen, aller historischen Zeiten.

Mario Marino hat diese frühe Lebensspanne in seinem Prachtband Kinder der Welt meisterlich im Bild eingefangen und ihnen ein fotografisches Denkmal gesetzt.

Helme Heine

 

Titel: Kinder unserer Welt

Autor: Mario Marino
Herausgeber: ‎ teNeues Verlag
Sprache‏: ‎ Deutsch/Englisch
Gebundene Ausgabe: ‎ 256 Seiten
ISBN‏:‎ 978-3961714100
Format: ‎ 28 x 35 cm

Podcast von NDR Kultur: „Am Weltkindertag machen etliche Organisationen auf die dramatische Lage von Kindern in vielen Regionen der Welt aufmerksam. Kindern eine Stimme geben, von Kinderleben erzählen - das ist auch die Idee des neuen Bildbands „Kinder unserer Welt“. (von Juliane Bergmann)

 

 

 

Teilen
Zurück